St. Vincenz zu Altenhagen I

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Andacht für die Woche vom 2.7. bis 8.7.2023

01.07.2023

Andacht für die Woche
vom 2.7. bis 8.7.2023
über das Evangelium
des 4.Sonntags in derTrinitatiszeit
Verfasser:
Pfarrer in Ruhe Jürgen-Peter Lesch
(
Springe – früher Pfarrer der EKD in Hannover)

Lukas 6,36-42
Jesus sprach: Seid barmherzig,
wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht,
so werdet ihr auch nicht gerichtet.
Verdammt nicht,
so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt,
so wird euch vergeben.
Gebt, so wird euch gegeben.
Ein volles, gedrücktes, gerütteltes
und überfließendes Maß
wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß,
mit dem ihr messt,
wird man euch zumessen
.
Er sagte ihnen
aber auch ein Gleichnis:
Kann denn ein Blinder
einem Blinden den Weg weisen?
Werden sie nicht alle beide
in die Grube fallen?
Ein Jünger steht nicht
über dem Meister;
wer aber alles gelernt hat,
der ist wie sein Meister.
Was siehst du den Splitter
in deines Bruders Auge,
aber den Balken im eigenen Auge
nimmst du nicht wahr?
Wie kannst du sagen
zu deinem Bruder:
Halt still, Bruder, ich will dir
den Splitter aus deinem Auge ziehen,
und du siehst selbst
nicht den Balken in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst
den Balken aus deinem Auge,
danach kannst du sehen
und den Splitter
aus deines Bruders Auge ziehen.

Lutherbibel 2017


Liebe Leserin, lieber Leser,
schon in den ersten Worten
aus der sogenannten Feldrede
im Evangelium nach Lukas wird deutlich,
dass sich die Aufforderung,
barmherzig zu sein,
nicht an alle Menschen richtet.
Denn sie wird damit begründet,
dass der Vater,
Gott selbst, barmherzig ist.
Dass sich Menschen über das Leid,
die Not und die Angst
der anderen erbarmen,
ist beileibe nicht selbstverständlich.
Die Begründung für ein solches Denken
und Handeln leitet Jesus
aus den Eigenschaften her,
mit denen Gott in den Schriften,
die wir „Altes Testament“ nennen,
immer wieder beschrieben wird.
Eine besonders eindrückliche Stelle
steht im Buch Exodus,
dem 2. Buch Mose.
Auf dem Berg Sinai sieht Mose
Gott an sich vorüberziehen.
Da ruft er aus:
„Herr, Herr, Gott,
barmherzig und gnädig
und geduldig und von großer Gnade
und Treue.“

(2. Mose/Exodus 34,6).
„Barmherzig, gnädig und geduldig“
sind die Attribute Gottes,
die immer wieder genannt werden.
Wobei die Übersetzung „geduldig“
das hebräische Wort nur ungenau wiedergibt.
Besser wäre es übersetzt mit „langmütig“,
denn wörtlich heißt es „langsam zum Zorn“.
Eine Formulierung,
die sich im Brief des Jakobus wiederfindet:
„Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören,
langsam zum Reden,
langsam zum Zorn“
(Jak 1,19).
Das wäre wohl ein Rat,
der heute gar nicht oft genug
beherzigt werden könnte, denke ich.
    Doch zurück zur Barmherzigkeit,
diesem altertümlichen Wort,
das uns eher in der Abwandlung
„erbärmlich“ begegnet.
Wird jemand heute
als erbärmlich bezeichnet,
dann ist das vor allem
als Beschimpfung gemeint.
Ursprünglich war die Bedeutung
eine ganz andere.
Ein erbärmlicher Mensch ist jemand,
der Erbarmen und Mitleid braucht.
Diese Bedeutung ist veraltet,
wie es im „Wörterbuch
der deutschen Gegenwartssprache“ heißt.
Barmherzigkeit passt nicht recht
in unsere Zeit, in der „erbärmlich“
zum Schimpfwort geworden ist,
und der Wert eines Menschen
vor allem danach bemessen wird,
was er leistet
oder was er zu leisten scheint.
In der aus Konkurrenten Gegner
und aus Gegnern
Feinde gemacht werden.
In der es viel weniger darum geht,
eigene Stärken zu entwickeln,
sondern vielmehr darum,
andere zu schwächen
oder ihre Schwächen
besonders herauszustellen.
Die Botschaft von Jesus ist ganz anders:
Richtet nicht und verdammt nicht,
sondern vergebt.
Seid nicht kleinlich,
sucht nicht ständig nach eurem Vorteil,
sondern seid großzügig,
gönnt auch anderen das,
was ihr euch selbst gönnt.
Nur wenige Verse vorher
steht im Evangelium die „Goldene Regel“:
„Wie ihr wollt,
dass euch die Leute tun sollen,
so tut ihnen auch!“ (Lk 6,31).
Immanuel Kant hat diese Regel ausgeformt
zum kategorischen Imperativ.
Bekannter und gebräuchlicher
ist sie in der negativen Formulierung:
 „Was du nicht willst,
das man dir tu‘,
das füg‘ auch keinem anderen zu“.
Das ist nun wirklich
der kleinste gemeinsame Nenner.
Doch auch dafür liefert der Text
aus dem Lukasevangelium einen Hinweis:
Der Maßstab, den ihr an andere anlegt,
wird auch für euch gelten.
    Am Ende des Textes gibt es
eine weitere Begründung
für die Barmherzigkeit
und zugleich dagegen,
andere Menschen als erbärmlich
herabzuwürdigen.
Es geht um den sprichwörtlichen
„Balken im Auge“.
Den Balken im eigenen Auge,
den wir nicht sehen wollen,
während uns der Splitter
im Auge des anderen umtreibt.
Wie leicht empören wir uns
über einen solchen „Splitter im Auge“
eines anderen Menschen,
über seine aus unserem Blickwinkel
falsche Sicht,
seine vermeintliche Uneinsichtigkeit
und Sturheit.
    Die Botschaft von Jesus mahnt uns,
den Blick zunächst
auf uns selbst zu richten.
Genauer darauf zu achten
und danach zu fragen,
was unsere Blicke lenkt,
aus welcher Perspektive
wir etwas beurteilen.
Barmherzigkeit bedeutet hier wohl,
genauer hinzusehen,
mit dem Herzen zu sehen.
Nicht nur mit den Augen,
nicht nur mit dem Verstand,
sondern auch mit dem Herzen hinzusehen
auf die anderen Menschen,
ihre Sorgen und Ängste,
ihr Leid und ihre Krankheiten,
ebenso aber auf ihre Hoffnungen, T
räume und Wünsche.
Ebenso hinzusehen auf Tiere und Pflanzen;
ja, die gesamte Schöpfung
in den Blick zu nehmen.
    Ist das nicht zu viel von uns verlangt?
Ja, ich denke schon.
Doch das ist kein Grund dafür,
es nicht mit der Barmherzigkeit
immer wieder zu versuchen.
Dabei werden wir vermutlich
wieder und wieder scheitern.
Dass wir dennoch
die Versuche nicht aufgeben,
barmherzig zu sein,
dazu ermutige uns
ein Wort aus den Psalmen:
„Barmherzig und gnädig

ist der Herr,
geduldig und von großer Güte“
(Psalm 103,8).
Jürgen-Peter Lesch

 
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