St. Vincenz zu Altenhagen I

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Andacht für die Woche vom 19. November bis 25. November 2023

19.11.2023

Andacht für die Woche
vom 19. November
(vorletzter Sonntag des Kirchenjahres)
bis 25. November 2023
Verfasser:
Pfarrer in Ruhe Jürgen-Peter Lesch
(
Springe –
früher Pfarrer der EKD in Hannover)

„Von Nächstenliebe, Mitleid
und Barmherzigkeit“

Liebe Leserin, lieber Leser!
Mit zunehmendem Alter kommt die Zeit,
auf das eigene Leben zurückzublicken.
Es stellt sich die Frage,
was von dem bleibt,
was in vielen  Lebensjahren entdeckt,
gedacht, getan oder unterlassen worden ist.
Was wird bleiben von dem eigenen Leben?
Wie ordne ich mein Leben
in das Geschehen um mich herum,
in die Zeitläufte, ein?
Wie bewerte ich all das?
Und – die schwierigste Frage –
wie bewerten andere Menschen das,
was ich gedacht, getan
oder versäumt habe?
Viele Menschen in meiner Umgebung
wissen nur wenig über mich.
Was sie denken,
beruht auf kurzen
oder längeren Begegnungen,
oft unter ganz bestimmten Umständen
und Bedingungen.
Sie kennen nur Ausschnitte
aus meinem Leben.
Doch wie sehen mich jene Menschen,
die mir nahestehen –
in der Familie,
in der weiteren Verwandtschaft,
im Kreis der Freundinnen und Freunde,
in der Nachbarschaft,
in der Gemeinde
und auch am Arbeitsplatz?
Danach zu fragen ist mir
doch sehr wichtig.
    Um solche Rückblicke auf das Leben
geht es zunächst
im Evangelium des Sonntags.
Dabei bleibt es nicht
bei einer bloßen Betrachtung.
Es werden Urteile gefällt,
an das sich lange
und ausführliche Begründungen
anschließen.
Das Evangelium nach Matthäus
stellt an das Ende
des Wirkens von Jesus
eine letzte große Rede.
Jesus richtet sich mit Mahnungen,
die mit Gleichnissen verdeutlicht werden,
an seine Jüngerinnen und Jünger.
Die Rede schließt dann
mit dem Bild vom Weltgericht.
    Jesus sprach zu seinen Jüngern:
Wenn aber der Menschensohn
kommen wird in seiner Herrlichkeit
und alle Engel mit ihm,
dann wird er sich setzen
auf den Thron seiner Herrlichkeit,
und alle Völker werden vor ihm
versammelt werden.
Und er wird sie voneinander scheiden,
wie ein Hirt die Schafe
von den Böcken scheidet,
und wird die Schafe
zu seiner Rechten stellen
und die Böcke zur Linken.
Da wird dann der König sagen
zu denen zu seiner Rechten:
Kommt her,
ihr Gesegneten meines Vaters,
ererbt das Reich,
das euch bereitet ist
von Anbeginn der Welt!
Denn ich bin hungrig gewesen
und ihr habt mir zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen
und ihr habt mir zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen
und ihr habt mich aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen
und ihr habt mich gekleidet.
Ich bin krank gewesen
und ihr habt mich besucht.
Ich bin im Gefängnis gewesen
und ihr seid zu mir gekommen.

Dann werden ihm
die Gerechten antworten und sagen:
Herr, wann haben wir dich
hungrig gesehen
und haben dir zu essen gegeben?
Oder durstig und haben dir
zu trinken gegeben?
Wann haben wir dich
als Fremden gesehen
und haben dich aufgenommen?
Oder nackt und haben dich gekleidet?
Wann haben wir dich krank
oder im Gefängnis gesehen
und sind zu dir gekommen?
Und der König wird antworten
und zu ihnen sagen:
Wahrlich, ich sage euch:
Was ihr getan habt
einem von diesen
meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan.
Dann wird er auch sagen
zu denen zur Linken:
Geht weg von mir, ihr Verfluchten,
in das ewige Feuer,
das bereitet ist dem Teufel
und seinen Engeln!
Denn ich bin hungrig gewesen
und ihr habt mir
nicht zu essen gegeben.
Ich bin durstig gewesen
und ihr habt mir
nicht zu trinken gegeben.
Ich bin ein Fremder gewesen
und ihr habt mich nicht aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen
und ihr habt mich nicht gekleidet.
Ich bin krank
und im Gefängnis gewesen
und ihr habt mich nicht besucht.
Dann werden auch sie
antworten und sagen:
Herr, wann haben wir dich hungrig
oder durstig gesehen
oder als Fremden
oder nackt oder krank
oder im Gefängnis
und haben dir nicht gedient?
Dann wird er ihnen antworten
und sagen:
Wahrlich, ich sage euch:
Was ihr nicht getan habt
einem von diesen Geringsten,
das habt ihr mir auch nicht getan.
Und sie werden hingehen:
diese zur ewigen Strafe,
aber die Gerechten in das ewige Leben.
(Evangelium nach Matthäus, Kap 25,31-46;
Übersetzung in der Lutherbibel 2017)
    Noch einmal werden die großen
und umfassenden Themen aufgenommen,
die am Anfang des Evangeliums
in den Seligpreisungen genannt werden.
Sie bestimmen die Botschaft von Jesus:
Nächstenliebe, Mitleid und Barmherzigkeit.
Dass es genau um diese Botschaft geht,
gerät leicht aus dem Blick,
weil der Abschnitt
mit einem harten Urteil endet.
Viele Menschen haben
unter diesem radikalen Schlusssatz gelitten
oder leiden noch immer darunter.
Der Psychoanalytiker Tilman Moser
blickt auf seine eigene
religiöse Biografie zurück
und formuliert seine früheren Gebete ‚
im Anschluss an diesen Text:
„Ich habe dich flehentlich gebeten,
mich auf die Seite der ‚Schafe‘ zu nehmen,
doch ich wusste,
dass ich zu den ‚Böcken‘ gehörte.
Es war mir als Kind …
selbstverständlich, dass die Welt …
aus Geretteten und Verdammten bestand;
das Fürchterliche war nur,
dass ich …immer über
dem Abgrund der Verdammnis hing
und niemals wusste,
wie lange der schmale Steg
noch halten würde, der mich trug“.
    Es ist problematisch,
den Text vom letzten Satz,
von der Verkündigung der Strafe
und der Belohnung her zu lesen
und von daher
verstehen zu wollen.
Besser ist es,
den gesamten Text
in den Blick zu nehmen.
Es ist eine ungewöhnliche Gerichtsszene,
die hier dargestellt ist.
Die Szene beginnt damit,
dass bereits Urteile gefällt sind.
Daran schließen sich die Begründungen an.
Danach kommt es zu Gegenreden
und den Begründungen der Urteile.
Das Ganze schließt mit dem Satz,
bei dem es sich lohnt,
genau hinzuschauen.
Was die beiden Urteile ankündigen,
liegt in der Zukunft.
Luther übersetzt sehr genau:
„Und sie werden hingehen:
diese zur ewigen Strafe,
aber die Gerechten
in das ewige Leben“.
Das macht deutlich:
Der Prozess ist
noch nicht abgeschlossen.
Wenn man genau
auf den griechischen Text schaut,
zeigt sich, dass Taten
und Unterlassungen
nicht in der Vergangenheit liegen
und beendet sind.
Man könnte die Urteilsbegründungen
etwa so umschreiben:
„Für euch auf der rechten Seite
ist es selbstverständlich,
Bedürftigen zu essen
und zu trinken zu geben,
Fremde aufzunehmen,
Nackte zu kleiden,
sich um Kranke zu kümmern
und Gefangene zu besuchen.
Aber ihr auf der linken Seite
habt all das nicht im Blick.
Ihr seht nicht die Hungrigen
und Durstigen,
Fremde interessieren euch nicht,
und es ist euch egal,
ob Menschen keine Kleidung haben.
Auf Kranke nehmt ihr keine Rücksicht,
und auf keinen Fall
wollt ihr etwas mit Gefangenen
zu tun haben“.
    Die sechs barmherzigen Taten –
später zählt noch
das Begraben der Toten dazu,
sodass es sieben Taten
der Barmherzigkeit sind –
 werden in dieser Gerichtsszene
in einen neuen,
größeren Zusammenhang gestellt.
Es geht nicht darum,
ob Menschen, ob wir
aufgrund unseres Tuns und Lassens
von Gott angenommen
oder weggestoßen werden.
Es geht vielmehr um Gott selbst.
In diesen Werken soll
Gottes Wahrheit offenbar werden
und sich seine Macht durchsetzen.
Jene Kraft, die in den Schwachen
mächtig wird.
Indem wir versuchen,
etwas aus Nächstenliebe zu tun,
Mitleid empfinden
und barmherzig handeln,
haben wir Anteil an dem Plan,
den Gott für uns Menschen
und für seine gesamte Schöpfung hat.
Jesus verehren
heißt nichts anderes,
als das zu tun,
was er geboten hat,
vor allem, das Liebesgebot
ernst zu nehmen.
Der Maßstab im Gericht ist die Liebe.
So wird deutlich, was wir
in einem Weihnachtslied gern singen:
Jesus Christus ist zugleich
„wahr Mensch und wahrer Gott“.
Als wahrer Mensch
leidet er noch immer.
Er leidet mit denen,
die Angst haben, die trauern,
unter Schmerzen leiden –
körperlich und seelisch.
Er leidet mit den Unterdrückten,
den Verzweifelten, den Heimatlosen
und den Hoffnungslosen.
Er ist unter denen,
die ihren Zorn
und ihre Angst herausschreien,
und bei denen,
die aufgegeben haben
und stumm geworden sind.
    Als wahrer Gott ist er bei uns,
um uns zu tragen,
uns Mut zu machen
und Hoffnung zu geben.
Im Vertrauen darauf
können sich Christinnen und Christen
Je nach ihren Kräften
in Nächstenliebe üben,
an den Werken der Barmherzigkeit
mitwirken und Mitleid
fruchtbar werden lassen.
Und – bei den „Taten der Barmherzigkeit“
geht es um Taten ebenso
wie um Worte und Gesten,
um offene Augen und Ohren,
um Zuneigung und Verständnis.
    Am Schluss steht eine Überlegung
zum Volkstrauertag,
der heute begangen wird.
In diesem Jahr ist er
ganz besonders den Gedanken
an die Opfer des Terroranschlags
auf Menschen in Israel,
an die Opfer der Kämpfe im Gazastreifen,
dem Westjordanland
und den Golanhöhen gewidmet.
Er ist ebenso gewidmet
dem Gedenken an alle Opfer
vergangener und gegenwärtiger Kriege,
gewaltsam ausgetragener Konflikte
und aller Menschen,
die unter Gewaltherrschaft litten und leiden.
    Wir wissen:
Die Vergangenheit können wir nicht ändern.
Doch in der Gegenwart
können wir unseren Blick
vor allem auf die Opfer richten,
auf Menschen, die zwischen
die Fronten geraten,
auf Menschen, die einfach
nur leben wollen.
Sie werden zum Opfer anderer Menschen,
für die es so etwas wie
Mitleid und Barmherzigkeit,
Verständnis und Anteilnahme
offenbar nicht gibt.
So bleibt uns nur,
uns für alle Opfer einzusetzen
so weit wie wir es vermögen,
ohne selbst zu verzweifeln.
Ich denke, zum Einsatz
für die Opfer gehört dabei
auch unser Gebet für sie
und Gebete um ein Zusammenleben
aller Menschen in Frieden,
sowie es uns verheißen ist.

In dieser dunklen Zeit wünsche ich Ihnen
jene Kraft und jene Zuversicht,
die in unserem Glauben
an den auferstandenen Herrn Jesus Christus
begründet sind.
Ihr Jürgen-Peter Lesch

 
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