St. Vincenz zu Altenhagen I

Archiv

Andacht für die Woche vom 15.Oktober bis 21.Oktober 2023

16.10.2023

Andacht für die Woche
vom 15.Oktober bis 21.Oktober 2023
über das Evangelium
des 19. Sonntag nach Trinitatis
Verfasser:
Superintendent in Ruhe Wilhelm Niedernolte
(Eldagsen)
    

Markus 2, 1-12
Und nach etlichen Tagen ging Jesus
wieder nach Kapernaum;
und es wurde bekannt,
dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen

Liebe Leserin, lieber Leser,
ich lese diese Geschichte 
als Geschichte vom Tragen
und Getragen-Werden.
Wer trägt wen?
Zunächst: Der Gelähmte
wird von vier Männern getragen,
vielleicht von vier Freunden
oder von vier Verwandten.
Gut, wenn man im Bedarfsfall
solche Menschen hat,
die bereit sind zum Tragen,
die auch stark genug dazu sind.
In unserem Land werden Menschen,
die in einer vergleichbaren Situation
wie der Gelähmte
in der Geschichte mit Jesus sind,
auch getragen,
zumindest finanziell mitgetragen.
Das ist gut so,
das ist gewollt
und das soll
auch in Zukunft so bleiben.
Was sich staatlich und finanziell
nicht organisieren lässt,
ist die menschliche Zuwendung,
dass der Kummer des Gelähmten
und die Trauer über seine Situation
mitgetragen wird,
dass Menschen ihn besuchen,
ihn nicht in seiner Wohnung
verkümmern lassen.
Darüber musste sich
der Gelähmte nicht beschweren.
Er hatte Freunde, die ihn trugen.
Aber es gibt Schwierigkeiten.
Die vielen Menschen,
die Jesus zuhören,
sind so von seinen Worten gefesselt,
dass sie die akute Notfallsituation
gar nicht wahrnehmen.
Sie unterlassen das Nächstliegende,
nämlich eine Rettungsgasse zu bilden,
so wie man es bei uns
auf der Autobahn erleben kann,
wenn vor uns ein Unfall passiert ist
und Polizei und Notarzt
schnell zu den Verletzten
gelangen müssen.
Viele sind so fasziniert
von dem Geschehen
und so beschäftigt damit,
ein Video zu drehen
mit ihrem Smartphone,
dass sie vergessen,
eine Rettungsgasse zu bilden.
Ähnlich bei Jesus.
Die Menschen sind so fasziniert
von seinen Worten,
dass sie für das,
was um sie herum passiert,
keinen Blick mehr haben.
Und dieses Nichtwahrnehmen
ihrer Umgebung versperrt
den Weg zu Jesus.
Die vier Freunde jedoch
sind vier handfeste Kerle.
Sie lassen sich nicht beirren
von den widrigen Umständen.
Denn sie haben nur das eine Ziel,
dass ihr Freund geheilt wird.
Dazu müssen sie sich
zu diesem Wanderprediger Jesus
durchkämpfen, der in ihrem Ort
Kapernaum Station macht.
Dazu steigen sie
auf das Dach des Hauses
und graben sogar ein Loch
in das Lehmdach.
Sie machen die Erfahrung:
Jemanden tragen kann
ganz schön anstrengend sein.
Nächstenliebe erfordert
manchmal Ausdauer und Phantasie.
Darüber verfügen sie;
und wir erfahren noch etwas
in einer kleinen Nebenbemerkung.
Sie tragen ihren Freund
nicht nur auf der Matte.
Sie tragen ihn auch
mit ihrem Glauben.
Wir lesen:
„Als nun Jesus ihren Glauben sah…“.
Gemeint ist der Glaube der Träger.
Der Glaube der vier Männer
hat den Gelähmten
seiner Heilung nähergebracht.
Sicher können sie
nicht stellvertretend
für ihren Freund glauben,
aber sie können
„um ihn herum“ glauben,
so wie meine Eltern
um mich herum geglaubt haben
und ein Netz des Vertrauens
zu Gott und zu mir selbst
um mich herum geknüpft haben,
ein Netz aus Liedern und Gebeten,
aus Forderung und Förderung,
ein Netz, das ich erst
viel später gespürt habe
und heute noch spüre.
Eltern können nicht
stellvertretend für ihre Kinder glauben,
aber sie können ihre Kinder
ihren Glauben spüren lassen.
    Tragen und getragen werden.
Wie geht es weiter?
Jesus sagt zu dem Gelähmten:
„Mein Sohn,
deine Sünden sind dir vergeben.“
Das führt zu Irritationen
bei den Schriftgelehrten,
bei den Theologen, bei denen,
die sich von Berufs wegen
mit Sünden und Sündenvergebung
auskennen und wissen,
dass nur Gott Sünden vergeben kann.
Jesus nimmt diese Irritationen
in Kauf, weil ihm
etwas anderes wichtig ist.
Er will dem Gelähmten sagen:
Auch ich trage dich.
Ich trage deine Sünden.
Ich trage deine Gottesferne.
Ich bin die Brücke
über dem Abgrund,
über dem Sund,
der dich von Gott trennt.
Gott kommt
über diese Brücke zu dir.
Geh Du aber auch
über diese Brücke zu Gott.
Dir sind deine Sünden vergeben,
weil Gott diese Ferne
überwunden hat.
„Und er stand auf,
nahm sein Bett
und ging alsbald hinaus
vor aller Augen.“
Aus dem Getragenen
wird ein Träger.
Er trägt sein Bett, seine Matratze,
was immer es gewesen sein mag.
Er trägt den Hinweis
auf seine frühere Lähmung
für alle sichtbar mit sich,
so wie auch wir unsere Vergangenheit,
unsere Lebensgeschichte mit uns tragen.
Aber er steht auf seinen eigenen Füßen,
er geht aufrecht,
mit seinem Bett,
mit seiner belastenden Vergangenheit.
Ab jetzt bestimmt er,
wohin sein Weg ihn führt.
Er ist nicht mehr abhängig
von seinen Trägern.
    Liebe Gemeinde,
ich muss zugeben,
ich sehe mich lieber
bei den Trägern als bei dem,
der getragen wird.
Und ich lebe gern
in einem Land,
das solche Trägerqualitäten
gegenüber fremden Menschen
entwickelt hat.
Ich möchte stark sein,
damit ich andere tragen kann,
so wie ich meine kleinen Kinder
getragen habe,
so wie ich Menschen
in unübersichtlicher Situation
getragen habe.
Das hilft den Menschen
und das fühlt sich gut an. 
Aber das andere
werde ich wohl
auch noch lernen müssen,
mich tragen zu lassen,
dann, wenn meine eigenen Füße
mich nicht mehr tragen werden. I
Ich sehe Menschen
in meiner Umgebung,
die dazu bereit wären.
Nur: Werde ich dazu bereit sein?
Ich hoffe es sehr,
denn eins ist unausweichlich:
Es wird der Tag kommen,
an dem ich mich
mit Sicherheit tragen lassen muss,
ein allerletztes Mal,
von drei Menschen
auf meiner rechten Seite
und drei auf meiner linken.
Bis es aber soweit ist,
gibt es noch viel zu tragen.
Ich bin dazu bereit.
Bis es soweit ist,
möchte ich aber auch
gelernt haben, mich tragen zu lassen.

Ich wünsche Ihnen eine gute Zeit
Wilhelm Niedernolte

 
Powered by CMSimpleBlog
nach oben