St. Vincenz zu Altenhagen I

Archiv

Andacht für die Woche vom 21. November 2021 (Ewigkeitssonntag) bis 27. November 2021

20.11.2021

Andacht für die Woche
vom 21. November 2021 (Ewigkeitssonntag) bis 27. November 2021
über den Wochenpsalm des 6. Sonntags nach Trinitatis
Psalm 90

Verfasser: Superintendent in Ruhe Wilhelm Niedernolte (Eldagsen)

 

Herr, du bist unsre Zuflucht für und für.
Ehe denn die Berge wurden
und die Erde und die Welt geschaffen wurden,
bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der du die Menschen lässest sterben
und sprichst:
Kommt wieder, Menschenkinder!
Du lässest sie dahinfahren
wie einen Strom,
sie sind wie ein Schlaf.
Lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.
Und der Herr, unser Gott,
sei uns freundlich
und fördere das Werk unsrer Hände
bei uns.
Ja, das Werk unsrer Hände
wollest du fördern!


Liebe Leserin, lieber Leser,

wir alle sind schon dem Tod begegnet:
vielleicht haben wir ihn gesehen
bei einer schlimmen Krankheit bei uns selbst,
von der nicht klar war,
wie sie ausgehen würde;
ich habe den Tod gesehen
bei einem Frontalzusammenstoß
in meinem Auto.
Wir alle sind schon dem Tod begegnet,
vielleicht bei Menschen
in unserer nächsten Umgebung,
haben gesehen,
wie unser Ehemann oder unsere Ehefrau
auf den Tod zugegangen sind,
unsere Arbeitskollegin,
unser Nachbar,
unser Freund.
Vielleicht hat jemand unter uns
auch schon am Sarg
eines seiner Kinder gestanden.
Wir alle sind schon dem Tod begegnet,
vor längerer Zeit oder gerade eben erst,
sodass die Wunden noch nicht verheilt
und die Schatten noch nicht gewichen sind.

Wir haben Menschen verloren,
die zu uns gehören,
und oft vor der Frage gestanden,
wie es weitergehen soll ohne sie.

Die Dichterin Masha Kalleko
sagt es so:

 

„Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,

nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.

Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?!

Allein im Nebel tast ich tot entlang

und lasse willig mich ins Dunkel treiben.

Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr,

und die es kennen, mögen mir vergeben.

Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,

doch mit dem Tod der andern muss man leben.“

     Im Psalm 90 heißt es:  
„Herr, du bist unsre Zuflucht für und für
.“
Im Angesicht des Todes
brauchen wir solche Zufluchtsorte,
wir brauchen Menschen,
die uns ertragen,
die uns zuhören können,
unsere Trauer aushalten,
die unsere Ratlosigkeit
gelten lassen können. 
Der Psalmsänger findet auch bei Gott
seine Zuflucht, seine Schutzhütte im Unwetter. 
     Menschen sprechen in unterschiedlichen Zeiten
und unterschiedlichen Situationen
sehr unterschiedlich von Gott.
Unsere Bilder von Gott
wechseln im Verlauf unseres Lebens,
und unser Glaube und unsere Bindung an Gott
sind von unterschiedlicher Intensität.
Doch in allen Veränderungen
unseres Glaubens und unserer Gottesbilder
ist wohl unsere Sehnsucht erhalten geblieben
nach einem Gott, der uns Schutz gibt,
wenn wir schutzlos sind –
Schutz in einer akuten Notsituation,
Schutz aber auch für unser ganzes Leben.
     Der Psalmsänger beschreibt diesen Schutz
als Kreislauf unseres Lebens von Gott her
und zu Gott hin.
„Gott, du lässt die Menschen sterben
und sprichst: Kommt  wieder, Menschenkinder!“

Unser Leben und das Leben derer,
die nicht mehr bei uns sind,
ist also nicht wie eine Linie,
die irgendwo in nicht näher
zu beschreibenden Sphären beginnt
und irgendwo im Niemandsland endet,
sondern unser Leben ist wie ein Kreis,
der bei dem Schöpfer beginnt
und bei ihm endet. 
Du lässt die Menschen dahin fahren
wie einen Strom / Fluss.“
Wie einen Fluss, der sich seine Quellen
nicht selbst suchen muss,
sich nicht selbst erfinden muss,

sondern der von Quellen lebt,
die andere und ein anderer geschaffen hat.
So leben auch wir von Voraussetzungen,
die wir nicht selbst geschaffen haben,
die auch unsere Eltern und Großeltern
nicht geschaffen haben.

Der Fluss nimmt seinen Lauf,
unscheinbar zunächst,
doch dann immer gewaltiger:
manchmal behäbig dahin strömend.
Stetig und zuverlässig trägt er Lasten,
feuchtet die Erde,
erfreut die Menschen.
Dann wieder gerät er in Turbulenzen,
muss Widerständen ausweichen,
stürzt in die Tiefe,
ist eine Gefahr für andere –
bis er einmündet und aufgeht
in dem großen Meer,
in der Grenzenlosigkeit und Ewigkeit,
die zum Schöpfer zurückführt.
Gott, du lässt die Menschen sterben
und sprichst: Kommt  wieder, Menschenkinder!“

Das ist gut zu wissen,
dass unsere Verstorbenen bei Gott geborgen sind,
dann können wir sie leichter loslassen,
weil wir wissen, dass Gott sie nicht loslässt,
so wie er uns nicht loslassen
wird im Leben, im Sterben und im Tod.

     Der Psalmsänger belässt es aber nicht
bei dem Bild von der Zuflucht bei Gott
und bei dem Bild des Flusses
als Beschreibung unseres Lebens,
sondern er richtet unseren Blick nach vorn,
ermutigt uns, die Verantwortung für unser Leben,
für unsere Zukunft und die Zukunft derer,
die nach uns kommen,
wieder zu gewinnen,
wenn er sagt
„Lehre uns bedenken,
dass wir sterben müssen,
auf dass wir klug werden.“
 
     Die Einsicht,

dass auch wir sterben müssen,
führt zur Klugheit,
zur Lebensweisheit.
Diese Einsicht stellt sich selten
von selbst ein,
vielleicht wächst sie im Lauf eines Lebens

Lehre uns die Erkenntnis,
Dass unser Leben einmalig ist,
voller Chancen,
aber auch in der Gefahr verpasster Chancen,
die nicht wiederkommen,
Fehler, die nicht korrigierbar sind.
Lehre uns,
wie wertvoll unsere gemeinsame Zeit ist,
dass wir als Eheleute,
als Familie und Freunde
miteinander unterwegs sind,
wenn auch nur für begrenzte Zeit.
Und lehre uns zu unterscheiden
zwischen dem, was wichtig ist
und dem, was unwichtig ist,
den Unterschied zwischen dem,
wo unsere Kraft und unser Einsatz nötig sind,
und dem, was wir auch getrost lassen können.

Lehre uns solche Klugheit,
damit sich die abschließende Bitte des Psalms
erfüllen kann:
Und der Herr, unser Gott,
sei uns freundlich
und fördere das Werk unsrer Hände
bei uns.
Ja, das Werk unsrer Hände
wollest du fördern!

     Noch sind wir auf dem Weg,
und wollen noch auf dem Weg bleiben.
Noch warten Herausforderungen auf uns,
und wir wollen sie annehmen.
Noch warten gute Tage auf uns,
und wir wollen sie genießen.
Noch warten Enttäuschungen auf uns,
auch sie wollen wir bestehen –
bis der Strom unseres Lebens einmündet
in das Meer der Ewigkeit Gottes.

 

Wilhelm Niedernolte

Superintendent i.R.

Eldagsen

 
Powered by CMSimpleRealBlog
nach oben