St. Vincenz zu Altenhagen I

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Andacht für die Woche vom 20. November 2022 bis 26. November 2022

20.11.2022

Andacht für die Woche vom 20. November 2022 bis 26. November 2022
zum Wochenlied zum Ewigkeitssonntag
„Wachet auf, ruft uns die Stimme“ (EG 147)
Verfasser: Superintendent in Ruhe Wilhelm Niedernolte
(Eldagsen)

 

  1. Wachet auf"; ruft uns die Stimme
    der Wächter sehr hoch auf der Zinne,
    wach auf, du Stadt Jerusalem!
    Mitternacht heißt diese Stunde;
    sie rufen uns mit hellem Munde:
    Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
    Wohlauf, der Bräut'gam kommt!
    Steht auf, die Lampen nehmt!
    Halleluja!
    Macht euch bereit zu der Hochzeit;
    ihr müsset ihm entgegengehn!
  2. Zion hört die Wächter singen;
    das Herz tut ihr vor Freude springen;
    sie wachet und steht eilend auf.
    Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig,
    von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig;
    ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.
    Nun komm, du werte Kron,
    Herr Jesu, Gottes Sohn!
    Hosianna!
    Wir folgen all zum Freudensaal
    und halten mit das Abendmahl.
  3. Gloria sei dir gesungen
    mit Menschen- und mit Engelzungen,
    mit Harfen und mit Zimbeln schön.
    Von zwölf Perlen sind die Tore
    an deiner Stadt, wir stehn im Chore
    der Engel hoch um deinen Thron.
    Kein Aug hat je gespürt,
    kein Ohr hat mehr gehört
    solche Freude.
    Des jauchzen wir und singen dir
    das Halleluja für und für.


    Liebe Leserin, lieber Leser!
    Wir schreiben das Jahr 1597.
    Ein lauer Sommerabend.
    Pfarrer Philipp Nicolai
    sitzt in seiner Stube in Unna.
    Draußen in den Gassen der Stadt
    ist es ruhig und dunkel geworden.
    Hier von seinem Fenster aus
    blickt er direkt auf den Friedhof,
    der die große Stadtkirche von Unna umgibt.
    Auf einmal hört er Lärm,
    Schritte, Stimmen, einen Schrei.
    Fünf, sechs oder sieben Menschen
    eilen herbei, andere folgen.
    Es pocht an seiner Tür.
    Philipp Nicolai springt auf:
    „Haben Sie es schon gehört,
    Herr Pfarrer, wissen Sie es auch schon …
    Gott steh uns bei ...
    der Stadtgraben liegt voll mit toten Ratten!“
    Betretene Gesichter,
    immer mehr Menschen
    kommen in der Gasse zusammen.
    Tote Ratten im Stadtgraben –
    was das bedeutet, weiß jeder hier.
    Der schwarze Tod, die Pest,
    ist im Anmarsch.
    Seit mehr als 100 Jahren
    zieht sie quer durch Europa,
    schickt ihre Vorboten:
    Zuerst sterben immer die Tiere.
    Philipp Nicolai will es nicht glauben,
    noch nicht, nicht so schnell,
    er läuft los,
    will es mit eigenen Augen sehen,
    vielleicht hat nur jemand Panik gemacht.
    Aber nein, es gibt keinen Zweifel.
    Wenige Sekunden später
    sehen es auch seine Augen:
    Ja, der Stadtgraben liegt voll mit toten Ratten.
    Jetzt ist alles andere
    nur noch eine Frage von Tagen.
    Wenige Wochen später
    schreibt Pfarrer Nicolai an seinen Bruder:
    „Die Pest wütet furchtbar hier in der Stadt,
    täglich werden zwischen 14 und 20 Menschen
    beerdigt.
    Meinem lieben Kollegen
    habe ich vor ein paar Tagen
    die Leichenpredigt gehalten.
    Der Küster besucht die Kranken
    und ich predige.
    Ich bin durch Gottes Gnaden
    noch ganz gesund,
    wenn ich gleich von Häusern,
    die von der Pest angesteckt sind,
    fast umlagert bin
    und auf dem Kirchhof wohne.
    Beinahe 800 Menschen
    hat die Pest in dieser Stadt schon getötet.“
    Es vergehen viele Wochen.
    Einen Drittel der Bevölkerung Unnas
    rafft die Pest in diesem Herbst hinweg.
    Wie können Menschen das aushalten?
    Mütter, Väter?
    Wie kann ein Pfarrer das aushalten,
    über Wochen hinweg jeden Tag
    zwanzig Menschen zu beerdigen?
    Woher kommt Trost in solchen Zeiten?
    Woher kommt die Kraft für den nächsten Tag?
    Diese fünf Monate in Unna im Jahre 1597
    übersteigen alles,
    was er bis dahin erlebt hat.
    So verbringt er manchen Abend
    im Kerzenschein in seiner Studierstube
    und zweifelt.
    Er liest in der Bibel
    und versucht zu beten.
    Doch dann beginnt er zu schreiben:
    „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“
    Ein Hoffnungslied inmitten der Bedrängnis.
    In einer Phase von tiefster Bedrängnis
    und Zweifeln im Herzen
    erhebt sich dieses Lied:
    „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“
        Auch in der Corona-Zeit
    machen einige Menschen
    ähnliche Erfahrungen
    und stellen sich die gleichen Fragen:
    Wie trösten sich Menschen
    in solchen Zeiten?
    Was stärkt, was trägt hindurch?
    Woran kann man glauben,
    worauf noch hoffen?
         „Gloria sei dir gesungen,
    mit Menschen- und mit Engelszungen,
    mit Harfen und mit Zimbeln schön.
    Kein Aug hat je gespürt,
    kein Ohr hat mehr gehört
    solche Freude.
    Des jauchzen wir
    und singen dir
    das Halleluja für und für.“
    Das Bild, das Philipp Nicolai hier entwirft,
    ist unglaublich und provokant:
    Ein großes Fest im Saal der Freude,
    Jesus Christus vom Himmel her kommend
    mitten unter ihnen,
    helles Licht, aufgehende Sterne,
    alle sind geladen.
    Sie singen mit Menschen-
    und mit Engelszungen.
    Niemand ist außen vor.
    Halleluja für und für.
        Dieses Lied hat über Jahrhunderte
    Menschen gestärkt
    und gerade in Bedrängnis
    den Blick trotzig auf das Leben gerichtet.
    Wir hören vor allem
    eines aus diesem Lied heraus:
    Das, was jetzt ist,
    das, was Ihr jetzt erlebt,
    ist nicht alles.
    Es gibt den Tod und das Leid – gewiss.
    Doch schaut hin, hört hin, seid wachsam.
    Das Leben ist nicht verloren,
    es gibt Verwandlung.
    Das Leben will in allen Farben wieder erblühen.
    Es gibt wieder Freude und Jubel,
    Wärme und Licht.
    Es gibt die Verwandlung –
    und die Hoffnung weist ins Licht.
    Das sagen die Worte dieses Liedes.
       Philipp Nicolai wollte trösten.
    Seine eigene Seele,
    aber auch die seiner Mitmenschen.
    Er hat es versucht mit diesem Bild aus der Bibel,
    dem Bild vom Freudenmahl
    am Ende der Tage,
    wo Christus sich mit den Menschen vereint
    und Leid und Geschrei ein Ende haben.
    Er hat es versucht mit einer Melodie,
    die sich seitdem
    in die Herzen vieler Menschen gegraben hat.
    Möge es auch heute so sein.

    Ihr Wilhelm Niedernolte
 
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