St. Vincenz zu Altenhagen I

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Andacht für die Woche vom 2. Oktober bis 8. Oktober

02.10.2022

Andacht für die Woche vom 2. Oktober bis 8. Oktober  
zum Wochenlied für den Erntedanksonntag
„Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit“ (EG 502)
Verfasser: Pfarrer in Ruhe Jürgen-Peter Lesch
(
Springe – früher Pfarrer der EKD in Hannover


Ein frohes Lied aus schwerer Zeit

Liebe Leserin, lieber Leser,
im Jahr 1644 –
noch war für den 30-jährigen Krieg
kein Ende abzusehen –
lädt ein Dichter und Musiker
zum lauten und frohen Lob Gottes ein:
„Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit!
Lob ihn mit Schalle, werteste Christenheit!
Er lässt dich freundlich zu sich laden:
freue dich, Israel, seiner Gnaden,
freue dich, Israel, seiner Gnaden!“

    
Am Anfang stehen
das Lob der Barmherzigkeit Gottes
und die Einladung zur Freude.
Wir, die Christinnen und Christen
sind eingeladen,
auch wenn Israel angesprochen wird.
Das „Israel“ unserer Gesangbücher sind wir,
die christliche Kirche,
nicht die „Kinder Israel“, das jüdische Volk.
Dass wir das neue Israel sind,
wie es zum Beispiel Martin Luther
in seiner Vorrede
auf den Propheten Hesekiel schreibt,
können wir heute nicht mehr sagen.
Doch das war zu der Zeit,
als das Lied geschrieben wurde, anders.
Und die Gnade Gottes,
über die wir uns freuen sollen
und freuen können –
diese Gnade gilt eben auch uns.
Wir dürfen uns gemeint fühlen,
wenn im Lied von Israel die Rede ist.
    „Der Herr regieret über die ganze Welt,
was sich nur rühret,
alles zu Fuß ihm fällt;
viel tausend Engel um ihn schweben,
Psalter und Harfe ihm Ehre geben,
Psalter und Harfe ihm Ehre geben.“

Als Matthäus Appelles das schreibt,
herrscht seit mehr als zwei Jahrzehnten
Krieg in Europa.
Dörfer und Städte liegen in Schutt und Asche,
die Pest zieht immer wieder durchs Land,
die Kriegsscharen plündern die Menschen aus.
Matthäus Appelles entwirft ein Gegenbild:
ein Herrscher, der alle regiert,
dessen Reich erfüllt ist
mit himmlischer Musik
statt mit Schlachtenlärm.
    Ich denke an den Psalm 103,
in dem von Gott als Weltenherrscher
die Rede ist.
Ein Herrscher voller Barmherzigkeit und Güte,
der Gerechtigkeit und Recht schafft.
Aber ich sehe die Bilder von Menschen,
die für Recht und Gerechtigkeit
auf die Straße gehen –
in Russland, im Iran, in China
und vielen anderen Ländern
und Regionen auf unserer Erde.
Menschen werden misshandelt,
verhaftet und manchmal sogar getötet.
Doch gegen allen Augenschein
glauben wir Christinnen und Christen,
dass die Herrschaft Gottes kommt,
ja, dass sie schon da ist,
seitdem Jesus Christus
auf die Erde gekommen ist –
verborgen und nicht offensichtlich,
aber unter uns -
wirksam und heilsam.
Durch diesen Glauben
können wir darin gestärkt werden,
uns für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen.
Wir wissen,
Gottes Kraft will besonders in den Schwachen,
Verzweifelten, Unterdrückten
und Hilflosen wirken.
    „Wohlauf, ihr Heiden, lasset das Trauern sein,
zur grünen Weiden stellet euch willig ein;
da lässt er uns sein Wort verkünden,
machet uns ledig von allen Sünden,
machet uns ledig von allen Sünden.“
„Lasset das Trauern sein“ –
das berührt mich ganz besonders.
Ja, ich weiß, es ist wichtig,
sich Zeit für das Trauern zu nehmen.
Doch die Trauer soll nicht das letzte Wort haben.
Der Weg führt weiter:
hin zu grünen Weiden
und zu einem tröstenden Wort.
Da klingt der Psalm 23 an,
mit dem Bild vom guten Hirten,
der seine Herde
auf einer grünen Aue weidet
und zum frischen Wasser führt.
Ich spüre die Hoffnung
auf ein gutes und sicheres Leben
unter Gottes Schutz.
Ich fühle mich getröstet
durch seine Begleitung
auf unseren Wegen.
Gott lädt uns ein,
sein Wort zu hören
und darauf zu vertrauen.
Und das kann uns helfen,
es zu glauben:
Gott macht uns ledig von allen Sünden.
    „Er gibet Speise, reichlich und überall,
nach Vaters Weise sättigt er allzumal;
er schaffet frühn und späten Regen,
füllet uns alle mit seinem Segen,
füllet uns alle mit seinem Segen.“
Dazu passt der Wochenspruch
für das Erntedankfest:
„Aller Augen warten auf dich,
und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
Du tust deine Hand auf
und sättigst alles, was lebt,
mit Wohlgefallen“

(Ps 145,15-16).
In diesem Jahr
werde ich allerdings nachdenklich:
 „früher und später Regen“?
Schon im fünften Buch Mose
lese ich darüber eine Zusage Gottes:
„So will ich eurem Lande
Regen geben zu seiner Zeit,
Frühregen und Spätregen,
dass du einsammelst dein Getreide,
deinen Wein und dein Öl,
und will deinem Vieh
Gras geben auf deinem Felde,
dass du isst und satt wirst“

(5. Mose 11,14-15).
Und im Buch des Propheten Jeremia
heißt es:
„Lasst uns doch den Herrn,
unsern Gott, fürchten,
der uns Frühregen und Spätregen
gibt zur rechten Zeit
und uns die Ernte treulich
und jährlich gewährt“

(Jer 5,24).
Es ist richtig:
Gott, der Vater unseres Herrn
und Bruders Jesus Christus
ist kein Wettergott.
Aber die Worte aus der Bibel
erinnern uns daran:
Es ist ganz und gar nicht selbstverständlich,
dass wir zu essen und zu trinken haben.
Und viele Menschen,
die auf vertrocknete Weiden und Äcker schauen,
sprechen jeden Tag
eine Bitte um Regen –
an wen auch immer sie gerichtet wird.
Andere stehen vor ihren überfluteten Äckern,
Wiesen und Häusern.
Was sie einmal hatten,
ist von Wasserfluten weggerissen worden.
„Frühregen und Spätregen zur rechten Zeit“ –
wenn dieser Rhythmus durchbrochen wird,
dann drohen Katastrophen.
Wir haben vieles in der Hand
und können vieles tun,
doch unsere Möglichkeiten
haben Grenzen.
Wir sind angewiesen
und hoffen auf Gottes Segen
zu unserem Tun und Lassen –
jeden Tag.
    „Drum preis und ehre seine Barmherzigkeit;
sein Lob vermehre, werteste Christenheit!
Uns soll hinfort kein Unfall schaden,
freue dich, Israel, seiner Gnaden,
freue dich, Israel, seiner Gnaden!“
Damit schließt das Lied.
Apelles von Löwenstern richtet sein Lied
an die „werteste Christenheit“.
Wen meint er damit?
Vielleicht das:
Gott schätzt uns,
die Christinnen und Christen, wert.
Er vertraut darauf,
dass wir unseren Weg
in der Nachfolge von Jesus Christus gehen.
Dabei soll uns kein Unfall –
gemeint sind Unglück,
Schaden oder auch Niederlage –
schaden.
 Am Ende steht die Gnade Gottes.
Wir sind als Menschen
auf einen gnädigen Gott angewiesen.
Diese Einsicht
hat Martin Luther umgetrieben.
Auf dieser Erkenntnis
ruht die Reformation:
Gott ist gnädig.
„Gnade“ ist inzwischen
ein seltenes Wort geworden.
Wir kennen es aus der Redewendung
„Gnade vor Recht ergehen lassen“.
Genau das ist gemeint:
Gnade vor Recht!
Damit sind wir am Ende
wieder beim Psalm 103:
„Barmherzig und gnädig ist der Herr,
geduldig und von großer Güte.“

Ich wünsche Ihnen allen ein frohes
und ein wenig nachdenkliches Erntedankfest.

Jürgen Peter Lesch

 


Text und Melodie des Liedes
schrieb Matthäus Appelles von Löwenstern.
Er ist heute vor allem
durch dieses eine Kirchenlied bekannt,
das seit 1950 ein Wochenlied
für das Erntedankfest ist.
Wer sich näher
 mit Johann Sebastian Bach befasst hat,
weiß vielleicht,
dass er sieben Kirchenlieder
von Matthäus Apelles für 4-stimmigen Chor
gesetzt hat.
    Appelles wurde im Jahr 1594
als Sohn eines Sattlers Appelt in Neustadt
im damaligen Fürstentum Oppeln geboren.
Nach einer dreijährigen Schulzeit
am Gymnasiums in Brieg,
südöstlich von Breslau,
war er von 1613 bis 1625
zunächst in Neustadt,
später in Leobschütz
als Lehrer und Kantor tätig.
In dieser Zeit dürfte er
schon gottesdienstliche Werke
geschaffen haben,
die er erst später publizieren konnte.
Die Stelle in Leobschütz
musste Appelt 1625
im Zuge der Gegenreformation
aus konfessionellen Gründen verlassen.
Doch Herzog Heinrich Wenzel von Oels-Münsterberg
nahm ihn in seinen Dienst.
Er übergab ihm
in der kleinen Residenz Bernstadt
die Aufsicht über das Schulwesen.
1631 ernannte ihn der Herzog
zum Rat und Sekretarius;
1634 erhob ihn Kaiser Ferdinand II.
in den Adelsstand.
Wegen der Unsicherheiten
und Plagen des 30-jährigen Krieges
zog sein Dienstherr im Jahr 1639
in das „Oelser Haus“
in der befestigten Stadt Breslau.
Auch Matthäus Apelles von Löwenstern
dürfte dort gewohnt haben.
Breslau erlebte in jenen Jahrzehnten
eine Blüte seines Musiklebens.
Der zu bescheidenem Wohlstand
gelangte Matthäus Appelles
wirkte dort als Förderer von Schulen,
Künstlern und Gelehrten.
Er starb im Jahr 1648
    Das Lied „Nun preiset alle
Gottes Barmherzigkeit“
ist wahrscheinlich im Jahr 1641
für die Trauerfeier
der verstorbenen Herzogin von Oels entstanden.
Drei Jahre später
wurde es in der Liedersammlung
„Frühlings-Maien“ veröffentlicht.
In diesem Lied nimmt Matthäus Appelles
den ersten Artikel
des Glaubensbekenntnisses auf.
Er schließt damit
an die erste Strophe des Liedes
„Wir glauben all an einen Gott“
(EG 183)
von Martin Luther an.
Es gelingt ihm,
die Aussagen des ersten Artikels
in ein frohes Lied zu kleiden,
das Zuversicht verleihen will.
    Interessant ist,
dass es in diesem Lied nicht nur Endreime,
sondern in den ersten beiden Zeilen
 jeder Strophe zusätzlich Binnenreime gibt:
„alle – Schalle“;
„regieret – rühret“;
„Heiden – Weiden“;
„Speise – Weise“
und „ehre – vermehre“.
Damit werden die langen Zeilen
noch einmal aufgeteilt.
Matthäus Appelles nähert damit
die einst von Horaz
bevorzugte reimlose alkäische Strophe
auf sehr geschickte Weise
dem deutschen Empfinden an.
In den Kreisen der herrnhutischen Dichtung
wurde diese Art der Strophenteilung geschätzt;
sie wird daher auch
als „Herrnhuter Strophe“ bezeichnet.

 
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