St. Vincenz zu Altenhagen I

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Andacht für die Woche vom 12. bis 18. Februar 2023

11.02.2023

Andacht für die Woche
vom 12. bis 18. Februar 2023
zum Wochenlied
„Gott hat das erste Wort“ (EG 199)
von Pfr. i.R. Jürgen-Peter Lesch


Von Menschlichkeit und Menschenverachtung

Liebe Leserin, lieber Leser,
manchmal fehlen die Worte.
Für das Erdbeben in der Türkei und in Syrien,
eine Katastrophe,
deren Ausmaß nicht abzuschätzen ist,
fehlen mir die richtigen Worte.
Worte, in denen ich mein Entsetzen
und meine Bestürzung ausdrücken könnte.
Und Worte, in denen ich mein Mitleid
und meine Trauer fassen könnte.
So bleibt mir selbst im Moment
eigentlich nur das Schweigen.
    Doch unter dem Eindruck dieser Katastrophe,
mit den Bildern der verletzten, verzweifelten
und trauernden Menschen vor Augen,
schaue ich auf den Text des Wochenlieds.
„Gott hat das erste Wort“, lese ich.
Und später: „Gott hat das letzte Wort“.
Gott hat das erste und das letzte Wort.
Das erinnert mich
an das vorletzte Kapitel
in der Offenbarung des Johannes.
Dort lese ich:
„Ich bin das A und das O,
der Anfang und das Ende. …“
.
Und genau dazwischen,
zwischen Anfang und Ende,
da bin ich, da sind wir.
Mit unseren Zweifeln und Ängsten.
Mit unseren Fragen –
Fragen angesichts dieses großen Erdbebens
und anderer Naturkatastrophen
wie Dürren, Überschwemmungen und Brände.
Fragen und Zweifeln
angesichts des Krieges in der Ukraine
und all der Bürgerkriege
und kriegerischen Konflikte,
die Tod und Verletzungen,
Heimatlosigkeit und Flucht
mit sich bringen.
    Ich schaue genauer hin
auf die einzelnen Strophen dieses Wochenliedes –
geschrieben von einem blinden
niederländischen Pfarrer,
Organisten und Musikdozenten.
Übersetzt von einem schweizer Pfarrer
und Professor für Liturgik und Hymnologie.
Ich lese:
„Gott hat das erste Wort.
Es schuf aus Nichts die Welten
und wird allmächtig gelten
und gehen von Ort zu Ort.“

Gott hat die Welt vor aller Zeit
und vor allem Raum „ins Leben gerufen“.
Durch sein Wort entstand der Planet,
auf dem wir leben dürfen, die Erde.
Die ist zwar nicht das Paradies,
sie ist aber auch nicht unser Eigentum,
in der wir nach Lust und Laune
alles ge- und verbrauchen können.
Doch sie ist ein Ort zum Leben und zum Lernen.
So können wir zum Beispiel lernen,
mit Katastrophen wie Erdbeben und Tsunamis,
Vulkanausbrüchen, Stürmen, Waldbränden
und Überschwemmungen umzugehen.
Verhindern lassen sich
die meisten dieser Katastrophen zwar nicht,
aber ihre Folgen lassen sich mildern
oder erträglicher machen.
    Es geht dabei um uns –
was in der nächsten Strophe deutlich wird:
„Gott hat das erste Wort.
Eh wir zum Leben kamen,
rief er uns schon mit Namen
und ruft uns fort und fort.“
Wir werden von Gott gerufen
und sind von ihm berufen.
Jede und jeder einzelne von uns.
Ich denke an die Worte
aus dem Buch des Propheten Jesaja:
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen,
du bist mein.“

Doch hier kommen mir jetzt Zweifel.
Was ist mit dem Ruf Gottes an die Menschen,
die unter Trümmern liegen,
die verletzt oder tot sind.
Und was ist mit denen,
die Töchter oder Söhne, Mütter oder Väter,
Großeltern, Verwandte,
Freundinnen oder Freunde,
Kolleginnen oder Kollegen verloren haben.
Hier habe ich keine eigene Antwort.
Mir bleiben nur die Worte des Hiob.
Mitten im tiefsten Leid sagt er:
„Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt,
und zuletzt wird er über dem Staub
sich erheben“
.
Hiob wird klar, dass der Mensch
nicht alles verstehen kann.
Er ringt mit Gott; er fragt und befragt ihn.
Und Gott stellt sich ihm.
Doch die Frage nach dem Leid bleibt offen.
Hiob muss erkennen,
dass er die Antwort nicht finden wird.
    Wenn der Mensch also nicht wirklich
über Gott richten kann,
so kann Gott
doch über den Menschen richten.
So heißt es in der dritten Strophe:
„Gott hat das letzte Wort,
das Wort in dem Gerichte
am Ziel der Weltgeschichte,
dann an der Zeiten Bord.“
Es geht um das Weltgericht
am Ende aller Zeiten.
Darüber spricht schon Jesus eindrücklich:
„Was ihr getan habt
einem von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan“
lesen wir im Evangelium nach Matthäus.
Angesichts der Erdbeben-Katastrophe
wird offensichtlich, was das bedeutet.
Da zeigt sich wahre Menschlichkeit
auf der einen Seite
und Menschenverachtung auf der anderen.
Da gibt es die spontane Hilfsbereitschaft,
das Sammeln von Geldern und Hilfsgütern,
die privaten Transporte –
all das ohne die Frage zu klären,
wer genau das alles bekommen soll.
Menschen brechen sofort auf,
um anderen zu helfen.
Wenn Hilfe so dringend gebraucht wird,
wer wird da fragen
nach Staatsangehörigkeit oder Religion?
Aber es gibt eben
auf der anderen Seite die Menschenverachtung.
Das Sperren von Grenzübergängen,
das Beschlagnahmen von Hilfsgütern
für eigene Zwecke,
ja wohl auch die weitere Bombardierung
der Opfer in den Gebieten der Kurden und Aleviten.
Nicht einmal der Krieg in der Ukraine
wird angesichts der großen Not
wenigstens durch eine Waffenruhe unterbrochen,
sondern er wird im Gegenteil verstärkt.
Wir sehen: Es geschieht so viel Gutes,
aber auch manches Schlechte offen
oder im Verborgenen.
Da ist es gut zu wissen,
dass am Ende eine andere,
eine unbestechliche Instanz urteilen wird.
Dazu kommt die Hoffnung
oder auch die Gewissheit,
dass es mit dem Leben anders ausgehen wird.
Dass uns nach unserem irdischen Leben
etwas ganz Neues erwartet.
So wie es in der vierten Strophe heißt:
„Gott hat das letzte Wort.
Er wird es neu uns sagen
dereinst nach diesen Tagen
im ewgen Lichte dort.“
   
Ich denke an die vielen Zusagen
im Alten wie im Neuen Testament.
Im Buch des Propheten Jesaja lese ich:
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel
und eine neue Erde schaffen,
dass man der vorigen nicht mehr gedenken
und sie nicht mehr
zu Herzen nehmen wird“.

Oder im Buch der Offenbarung:
„Und Gott wird abwischen
alle Tränen von ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein,
noch Leid noch Geschrei
noch Schmerz wird mehr sein;
denn das Erste ist vergangen“
.
Diese Hoffnung ist für mich befreiend.
Nein, es geht nicht darum, einfach aufzugeben.
Es geht darum, sich dann, ‚
wenn die Kräfte nachgelassen haben
und das Leben an ein Ende kommt,
Gott anzuvertrauen.
Irgendwann einmal darf ich aufhören,
zu tun und zu lassen.
Dann kann ich alles
im Vertrauen auf die Erlösung
durch Jesus Christus geschehen lassen.
Welch ein Trost.
Am Ende des Liedes steht,
was mein Leben, was unser Leben, was alles umfasst:
„Gott steht am Anbeginn,
und er wird alles enden.
In seinen starken Händen
liegt Ursprung, Ziel und Sinn.“

Ich wünsche Ihnen allen,
dass Sie darauf vertrauen können –
auch und gerade,
wenn das Vertrauen nicht leichtfällt,
die Hoffnung klein wird
und der Zweifel nicht verstummen will.

Ihr Jürgen Peter Lesch

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Das Lied „Gott hat das letzte Wort“
stammt ursprünglich aus den Niederlanden.
Es wurde im Jahr 1965
unter dem Titel „Nieuwjaarslied“ (Neujahrslied)
im Liederbuch-Probeband
„102 Gezangen“ (mit fünf Strophen )
und im Jahr 1973 im „Liedboek voor de kerken“
(mit nur noch vier Strophen) veröffentlicht.
Der Text „God heeft het eerste woord“
stammt von einem reformierten Niederländer,
dem blinden Pfarrer, Organisten
und Schriftsteller Jan Wit (1914-1980),
der überdies Dozent für Hymnologie
an der Universität Groningen war.
Das Lied hat ursprünglich fünf Strophen.
Die niederländische Gesangbuchkommission
strich nach dem Erscheinen des Probebandes
die dritte Strophe, die poetisch schwächer
als die anderen war und vom Sterben handelte.
    Im Jahr 1970 übersetzte Markus Jenny (1924-2001),
Schweizer Pfarrer und Professor für Liturgik
und Hymnologie an der Universität Zürich,
den Text ins Deutsche.
Dabei fügte er eine neue dritte Strophe ein,
weil er zwischen der zweiten und dritten Strophe
eine formale Lücke erkannt hatte.
Dieser Text steht nun im Evangelischen Gesangbuch.
Von Markus Jenny stammt unter anderem
die dritte Strophe des Liedes
„Hilf, Herr meines Lebens“ (EG 419).
Überdies hat er eine Übersetzung
des schwedischen Liedes
Gud kärlek är
som stranden och som gräset

geschrieben: „Weit wie das Meer ist Gottes große Liebe,
wie Wind und Wiesen,
ewiges Daheim“.
Allerdings ist die Übertragung von Ernst Hansen
„Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer“
bei uns bekannter.

Die Melodie schrieb Gerhardus Marinus (Gerard) Kremer
wohl im Jahr 1959.
Kremer (1919-1970) war Kantor, Organist,
Dozent und Komponist in Amsterdam,
Bloemendaal und Aerdenhout.
Bereits mit 14 Jahren war er Organist
in der Kapelle der Valerius-Klinik in Amsterdam.
Im Zweiten Weltkriegs tauchte er
wie viele seiner Altersgenossen unter.
Nach dem Krieg
widmete er sich ganz dem Musikstudium.
Als einer der ersten Schüler
absolvierte er eine Berufsausbildung
an der 1950 gegründeten
Protestantse Kerkmuziekschool in Utrecht.
Gerard Kremer komponierte unter anderem
Bearbeitungen von Kirchenliedern für Orgel und Chor.
Auch verschiedene Chorsätze
in der Chor- und Orgelausgabe
des „Liedboek voor de kerken“ (s.o.)
stammen von ihm.

 
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