St. Vincenz zu Altenhagen I

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Andacht für die Woche vom 10. bis 16. Juli 2022

10.07.2022

Andacht für die Woche vom 10. bis 16. Juli 2022
zum Wochenlied „Komm in unsre stolze Welt“ (EG 428)
Verfasser: Pfarrer in Ruhe Jürgen-Peter Lesch
(
Springe – früher Pfarrer der EKD in Hannover)

Ein Adventsgedicht im Juli?
Liebe Leserin, lieber Leser,
n diesen Tagen bekommen Schilderungen
aus der Zeit unmittelbar
nach dem Ende des 2. Weltkriegs
eine neue und erschreckend aktuelle Bedeutung.
So geht es mir mit einem Buch
von Hans Graf von Lehndorff,
dem Dichter des Wochenliedes
„Komm in unsre stolze Welt“.
Der Titel des Buches lautet
„Ostpreußisches Tagebuch.
Aufzeichnungen eines Arztes
aus den Jahren 1945-1947“.
Den Text hatte Lehndorff
bereits im Jahr 1947 niedergeschrieben
„teils nach herübergeretteten
Tagebuchaufzeichnungen,
teils aus der noch überwachen Erinnerung“.
Veröffentlicht wurde das Buch
aber erst im Jahr 1961, als aus
„dem Geschehen der damaligen Zeit
Geschichte geworden“
war, so schreibt Lehndorff in seinem Vorwort.
     Hans Graf von Lehndorff
leitete Anfang 1945 ein Lazarett in Königsberg.
Er erlebte die Einnahme der Stadt
durch die Truppen der Sowjetunion.
Am 9. April 1945 schreibt er in sein Tagebuch:
„Was ist das eigentlich,
so fragte ich mich, was wir hier erleben?
Hat das noch etwas
mit natürlicher Wildheit zu tun oder mit Rache?
Mit Rache vielleicht,
aber in einem anderen Sinn.
Rächt sich hier nicht in einer und derselben Person
das Geschöpf am Menschen,
das Fleisch am Geist,
den man ihm aufgezwungen hat? …
Das hat nichts mit Rußland zu tun,
nichts mit einem bestimmten Volk
oder einer Rasse -
das ist der Mensch ohne Gott,
die Fratze des Menschen.“

Es ist für mich erschreckend
und im Grunde unbegreiflich,
dass sich ein Krieg,
der solch unmenschliches Handeln hervorbringt,
jetzt keine zwei Tagesreisen
von uns entfernt stattfindet.
Da ist es tröstlich und mutmachend,
dass Lehndorff zwar zweifelt
und zeitweise nicht mehr beten kann,
aber im Chaos der Kriegs- und Nachkriegszeit
nicht endgültig verzweifelt.
Das wird auf der letzten Seite
des Ostpreußischen Tagebuchs deutlich.
Dort schreibt er:
„Aber dann geschah es,
dass ein Mensch, dem ich berichtete,
mitten im Strom meines Erzählens
ein Stück Brot aus der Tasche nahm,
es durchbrach und mir eine Hälfte davon reichte –
eine Geste, wie sie in jenen Tagen des Mangels
üblich war. Da wusste ich:
Nun gilt es, die ersten Schritte zu tun
auf dem Weg, den ein neues Dasein anbietet.
Und ich stand vor der Frage.
Wie wird dies neue Dasein aussehen
und wer wird darüber bestimmen?“
„Wie wird dies neue Dasein aussehen?“ –
ich denke, diese Frage
steht auch bei dem Text im Hintergrund,
den Lehndorff im Advent 1967
unter dem Titel „Adventsgedicht“ verfasst hat.
Dieses Gedicht ist eine eindringliche Bitte
um Gottes Kommen durch Christus
in die durch Menschen rücksichtslos beherrschte
und verhärtete Welt.

1. Komm in unsre stolze Welt,
Herr, mit deiner Liebe Werben.
Überwinde Macht und Geld,
lass die Völker nicht verderben.
Wende Hass und Feindessinn
auf den Weg des Friedens hin.

2. Komm in unser reiches Land,
der du Arme liebst und Schwache,
dass von Geiz und Unverstand
unser Menschenherz erwache.
Schaff aus unserm Überfluss
Rettung dem, der hungern muss.

3. Komm in unsre laute Stadt,
Herr, mit deines Schweigens Mitte,
dass, wer keinen Mut mehr hat,
sich von dir die Kraft erbitte
für den Weg durch Lärm und Streit
hin zu deiner Ewigkeit.

4. Komm in unser festes Haus,
der du nackt und ungeborgen.
Mach ein leichtes Zelt daraus,
das uns deckt kaum bis zum Morgen;
denn wer sicher wohnt, vergisst,
dass er auf dem Weg noch ist.

5. Komm in unser dunkles Herz,
Herr, mit deines Lichtes Fülle;

dass nicht Neid, Angst, Not und Schmerz
deine Wahrheit uns verhülle,
die auch noch in tiefer Nacht
Menschenleben herrlich macht.


In den fünf Strophen
kommen die Bitten uns immer näher.
Es geht um uns, unsere Welt,
unser Land, unsere Stadt,
unser Haus und schließlich unser Herz.
Jesus soll uns immer näherkommen.
Mit diesem Lied sind wir
hineingestellt in unsere Verantwortung,
die mehr umfasst, als uns lieb ist.
Es geht um uns selbst,
um die nächste Umgebung,
die Stadt, das Land, die Welt.
     Das Lied schildert die Umstände,
unter denen wir leben,
die wir uns selbst geschaffen haben
und unter denen wir leiden.
Jede Strophe endet mit einer Bitte,
dies grundlegend und nachhaltig zu ändern.
     Die erste Strophe
beschreibt die Weltsituation,
wie sie Lehndorff im Zweiten Weltkrieg
und danach erlebt hat.
Aber das ist nicht nur ein Rückblick.
Lehndorff schreibt
zur Zeit des Vietnam-Krieges.
Und er schreibt die Strophe
sozusagen vorausschauend
auf unsere Gegenwart.
Er beschreibt eine Welt,
die machtbesessen
und kriegerisch auftrumpft
und dabei durch ein Freund-Feind-Denken
Menschen und Völker ins Verderben stürzt.
Die Strophe endet mit einem Zitat
aus dem Benedictus.
Dort heißt es:
„und richte unsere Füße
auf den Weg des Friedens“
(Lk 1,79).
     Unmittelbar damit im Zusammenhang
steht die zweite Strophe.
Heute macht uns der Krieg in der Ukraine deutlich,
dass unser Gesellschaftssystem
die Armen immer ärmer macht
und die Schwachen zur Seite drängt.
Wir erkennen, dass wir uns
dazu haben bringen lassen,
nicht genug nachzudenken
über Armut und Überfluss,
über die Verantwortung füreinander.
     Und daran schließt die dritte Strophe an.
Es geht darum,
dass wir auf die lauten Parolen hören
und die leisen, die vorsichtigen,
die nachdenklichen Menschen
schnell überhören.
Dass die, die am lautesten tönen,
oft Recht bekommen.
Dagegen steht die Bitte
um die Kraft Gottes,
die in den Leisen
und Schwachen mächtig wird.
     Doch was spricht
gegen das „feste Haus“
in der vierten Strophe?
Es mag zynisch klingen,
doch immer wieder erleben wir,
dass feste Häuser nicht felsenfest sind.
Das mussten viele Menschen
im letzten Jahr im Rheinland
schmerzvoll erfahren.
Sie leiden noch heute
unter den Zerstörungen durch Wassermassen.
Und selbst dann,
wenn die materiellen Schäden
mehr oder minder repariert worden sind,
werden die Menschen
Schrecken, Ängste und Trauer
nicht ganz vergessen können.
Wir suchen einen sicheren Ort,
eine Heimat, ein Zuhause.
Wir wollen uns einrichten,
es uns wohnlich machen.
Das sind verständliche Wünsche.
Doch dabei besteht die Gefahr,
dass wir die Mauern zu hoch aufrichten
und die Grenzen zu dicht machen,
um über sie hinwegzuschauen.
Die Verbindung nach außen,
zu anderen Menschen,
in andere Regionen und andere Länder
kann dabei abbrechen.
Gerade jetzt erkennen wir,
dass wir uns zu sehr auf uns,
auf unser Land, konzentriert haben.
Dabei haben wir aus dem Blick verloren,
dass wir nur gemeinsam
mit anderen Menschen
und Völkern die großen Fragen
und Probleme unserer Zeit
angehen können.
Dazu brauchen wir
die Freiheit der Kinder Gottes,
die die Grenzen ihrer Kraft
und Möglichkeiten kennen.
In dieser Freiheit
aber können wir im offenen Raum
und auf unsicheren Wegen
auf Gottes Schutz und Schirm vertrauen.
     In der letzten Strophe
wird darum gebeten,
dass ein helles Licht in uns,
in unsere Herzen dringt.
In unsere Herzen,
die sich verfinstert haben
durch Angst und durch Sorgen
‚um uns selbst
und um die, die wir lieben.
Herzen, die dunkel geworden sind
durch schreckliche Erfahrungen,
durch eigenes und fremdes Leid.
Dass dort hinein Licht dringen soll,
dass es in den Herzen wieder hell werden soll,
ist leicht gesagt.
Doch gerade hier gilt das,
was Paulus an die Gemeinde
in Korinth schreibt:
„Gott hat einst gesagt:
‚Aus der Dunkelheit soll ein Licht aufleuchten!‘
Genauso hat er es in unseren Herzen
hell werden lassen.
Durch uns sollte
das Licht der Erkenntnis aufleuchten:
Die Herrlichkeit Gottes sollte sichtbar werden,
die uns in Jesus Christus begegnet“
(2. Kor 4,6).
    
Mich bewegt dieses Lied
von Hans Graf von Lehndorff,
weil es von einem tiefen Glauben
und Vertrauen zeugt.
Diese Worte schreibt ein Mensch,
der viel von dem Schrecklichen,
Grausamen und Unmenschlichen gesehen hat,
das der Krieg anrichtet.
Er klagt nicht Gott dafür an,
sondern sieht die Schuld,
die Menschen auf sich geladen haben.
Und er wendet sich Gott zu in dem Vertrauen,
dass Menschen durch ihren Glauben
an Gottes Güte aus ihren Fehlern lernen
und sich ändern können.
Das ist ein langer und schwieriger Weg.
Am Ende bleibt daher die Bitte,
die wir ganz am Ende der Bibel lesen:
„Amen, komm, Herr Jesus!“

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Hans Graf von Lehndorff (1910 bis 1987)
stammte aus eine preußischen Adelsfamilie.
Nach einem Jurastudium in Genf und Paris
und einem Medizinstudium in München
war Lehndorff als Arzt in Berlin, Insterburg
und in einem Lazarett in Königsberg tätig.
Von 1945 bis 1947 arbeitete er
unter den oft chaotischen Umständen
der Nachkriegszeit in unterschiedlichen Orten
Ost- und Westpreußens.
Im Jahr 1947
durfte er dann nach Deutschland ausreisen.
Von da an lebte Lehndorff in Bad Godesberg.
Er unterhielt dort eine Privatklinik
und eine Arztpraxis.
Dabei betätigte er sich
auch in der diakonischen Arbeit,
der Gefangenenseelsorge
und der Fürsorge für Drogenabhängige.
Im Jahr 1969 erschien ein zweites Buch von ihm:
„Die Insterburger Jahre.
Mein Weg zur Bekennenden Kirche“.
Er schildert seine Begegnung
mit Menschen dieser Bewegung
in den Kriegsjahren 1941 bis 1944
in Insterburg.
Er berichtet von der Arbeit
der Mitglieder in der Gemeinde,
den praktischen Hilfen,
den abendlichen Veranstaltungen,
auch von den Schwierigkeiten
mit der „amtlichen Kirche“,
die sich den staatlichen Machtverhältnissen
zumeist anpasste.
Das Wirken in dieser Gemeinde
ließ ihn erkennen, dass
„Kirche auch noch etwas ganz anderes sein kann,
nämlich eine Herausforderung Gottes
an den Menschen,
und dass diese Herausforderung
in Kämpfen, Anfechtungen
und Widersetzlichkeiten ihren Niederschlag finden kann.“
     Die Melodie im Gesangbuch
schuf im Jahr 1982 Manfred Schlenker (*1926).
Er war Domkantor in Stendal
und Landeskirchenmusikdirektor in Greifswald.
Für vier weitere Lieder
im Evangelischen Gesangbuch
hat er Melodien komponiert.
Der ungewohnte, etwas spröde
und herbe Charakter der Melodie
passt gut zum Text.

 
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