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Andacht für die Woche vom 15.11. bis 21.11.2020

17.11.2020

Andacht für die Woche vom 15.11. bis 21.11.2020
Verfasser:  Jürgen-Peter Lesch  
Pastor in Ruhe (Springe – früher Pastor der EKD in Hannover)

„Denn wir müssen alle offenbar werden
vor dem Richterstuhl Christi.“
(2. Korinther 5,10a – Wochenspruch für den Volkstrauertag 
bzw. vorletzten Sonntag des Kirchenjahres)

Vor einen Richterstuhl stehen normalerweise Angeklagte,
Menschen, die ein Vergehen
oder Verbrechen begangen haben.
Und von diesem Richterstuhl aus
wird am Ende der Verhandlung
das entsprechende Urteil verkündet.
Vor dem Richterstuhl stehen –
das lässt Gefühle wie Beklommenheit,
Hilflosigkeit oder auch Angst aufkommen.
Was den Richterstuhl Christi oder Gottes betrifft –
da gab es einen Spruch,
mit dem früher gerne Kinder
unter Druck gesetzt wurden:
„Der liebe Gott sieht alles“.
Furcht und Angst machen –
darum ging es.
Aber damit wurde und wird
das Bild vom Richterstuhl Christi oder Gottes
rücksichtslos für eigene Zwecke benutzt.
Doch es geht damit nicht
um einen alles kontrollierenden Gott.
Es geht vielmehr um jene besondere Gerechtigkeit,
die vor Gott und Christus gilt
und die sich von unserer irdischen Gerechtigkeit
deutlich unterscheidet.

Das Bild vom Richterstuhl Christi
ist in der Kunst des Spätmittelalters
und der frühen Neuzeit gern
und häufig dargestellt worden.
Die Vorstellung von einem letzten göttlichen,
einem „Jüngsten Gericht“,
faszinierte einerseits
und erschreckte andererseits die Menschen.
Bekannt ist die Darstellung durch Michelangelo
in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan.
Häufig sind die Reliefs eines großen Weltgerichts
in den Bogenfeldern über Kirchenportalen.
Christus sitzt oder steht als Richter
majestätisch in der Mitte,
auf der linken Bildseite –
zur Rechten von Christus -
werden die Seligen
von Engeln in den Himmel geleitet,
auf der rechten –
zur Linken von Christus –
flehen die Verurteilten inständig um Gnade,
werden aber bereits vom Teufel
in den Abgrund
und die ewige Verdammnis hinabgezogen.
Eindrucksvoll sind die Darstellungen des Jüngsten Gerichts
an den Bogenfeldern
über den Toren der großen gotischen Kathedralen
in Nordfrankreich und im Burgund.
Die vielleicht bekannteste Darstellung
befindet sich an der Kathedrale St. Lazare in Autun.
Die Kirche ist dem heiligen Lazarus geweiht,
dem Bruder von Martha und Maria.
Er war, so lesen wir im Johannesevangelium,
verstorben und wurde von Jesus wieder zum Leben erweckt.
Besondere Bedeutung
bekam die Kathedrale dadurch,
dass Lazarus nicht nur der Heilige der Totengräber,
sondern auch der Leprakranken ist.
Damit wurde St. Lazare zu einer Wallfahrtskirche.
Man muss sich die Züge
dieser von der Gesellschaft ausgeschlossenen Menschen
durch die Gassen der Stadt –
alle Fenster waren aus Furcht vor der Krankheit
verschlossen und verriegelt –
hoch zur Kathedrale vorstellen,
um zu verstehen,
welche Bedeutung
die Darstellung des Weltgerichts im Tympanon –
geschaffen um 1130 vom Bildhauer Gislebertus –
für sie hatte. Ihnen,
deren Leben aufs Äußerste eingeschränkt war,
wurde in wunderbaren und schrecklichen Bildern gezeigt,
was sie – und die anderen Menschen –
nach ihrem Tod erwartete.
     Für die Leprakranken,
die sich bis zur Kathedrale des heiligen Lazarus
geschleppt hatten in der Hoffnung,
Linderung oder sogar Heilung
für ihr Leiden zu finden,
kann die Darstellung des Weltgerichts
ihren Schrecken verloren haben.
Sie kann vielmehr ein Trost gewesen sein:
Alles Schreckliche habe ich erlebt
und erlebe es noch.
Für mich kann es nach dem Tod nur besser werden.
Das ist für mich die Hoffnung.
Das hilft mir, mein Leben hier so anzunehmen,
wie es ist.
Das Leben ist nicht die letzte Gelegenheit,
aber es ist meine Angelegenheit.
Und vielleicht sind einige der Leprakranken
von ihrer Wallfahrt getröstet und gestärkt
zurückgekehrt in ihre Hütten und die Kapellen,
die für Aussätzige außerhalb von Dörfern
und Städten errichtet waren.
     Das war doch nur Vertröstung,
würden wir heute sagen.
Da wurde Menschen,
die durch ihre Krankheit eingeschränkt sind,
eine bessere Existenz nach ihrem Tod versprochen.
Das war doch nur dazu gedacht,
sie ruhigzustellen
und uns von der Mühe zu entlasten,
sich mehr um sie zu kümmern.
     Doch so einfach ist es wohl nicht.
Menschen sind in ihrem normalen Leben
eingeschränkt mit der Aussicht,
dass es irgendwann (wieder) besser werden wird.
Das kommt uns doch bekannt vor.
Gut, zurzeit ist nicht die Rede davon,
dass es uns erst im Jenseits wieder besser gehen wird.
Doch sich einschränken,
damit es später besser wird –
das ist uns jetzt nicht mehr so ganz fremd.
     Es geht auch in der Vorstellung vom Jüngsten Gericht
– schlicht gesagt – darum, durchzuhalten
und den Mut nicht zu verlieren.
Es wird das Bild einer anderen Gerechtigkeit
und einer anderen Wirklichkeit vor Augen gestellt.
Das ist gerade dann wichtig,
wenn das alltägliche und gewohnte Leben eingeschränkt ist,
oder alles, worauf wir bisher bewusst
oder unbewusst vertraut haben,
brüchig wird.
     Noch ein Beispiel.
Gar nicht weit von Autun –
auch im Burgund – liegt der kleine Ort Beaune.
Dort ließen Nicolas Rolin,
Kanzler des burgundischen Herzogs Philipp des Guten,
und seine Frau Guigone de Salins,
ein Hospital bauen.
Im großen Krankensaal des Hospitals,

in dem noch heute die Betten stehen,
die sich je zwei Kranke teilen mussten,
wurde eine Darstellung des Jüngsten Gerichts aufgehängt.
Die Bilder wurden im Jahr 1443
von Rogier van der Weyden gemalt.
Auch auf diesen neunteiligen
und über zwei Meter breiten Altarbild
thront Christus in der Mitte.
Unter ihm steht der Erzengel Michael.
Er hält eine Waage in der Hand,
auf der Menschen,
die aus den Gräbern gestiegen sind,
nach ihren Taten gewogen werden.
     Die Darstellung dieses Jüngsten Gerichts
ist in den Grundzügen
der an der Kirche St. Lazare in Autun,
die etwa 300 Jahre früher entstand, ähnlich.
Allerdings ist dort der Erzengel Michael
mit einem Schwert und nicht mit einer Waage ausgerüstet.
Er ist also nur Ausführender
und hat nicht die Macht,
abzuwägen, wer verdammt und wer erlöst ist.
Und noch etwas ist anders.
Die Regierenden und Großen,
die in Autun noch dem Weltgericht unterworfen waren,
sind hier ausgeklammert.
Herzog, Kanzler, Kardinal und Papst
sind nicht mehr Anbetende, sondern Auserwählte.
Sie gehören dem Führungsstab des Weltgerichts
als geladene Zuschauer an.
So muss wohl sein,
denn nun befinden sie sich
in der oberen Reihe rechts und links
vom thronenden Christus.
Nach diesem Bild ist es so,
dass die Regierenden behaupten,
noch im Jenseits ihre weltliche Position zu behalten.
Diese Darstellung des Weltgerichts
erhöht die Herren dieser Welt auch in der Ewigkeit.
Ihre Ausnahmestellung gilt auf Erden wie im Himmel.
     Und genau diese Vorstellung
wurde durch die Jahrhunderte weitergegeben.
Die einen sind dem Gericht Gottes unterworfen,
die anderen nicht.
Die einen müssen Buße tun,
die anderen können sich freikaufen.
Die einen stehen zu dem,
was sie getan oder versäumt haben.
Und die anderen sind
Meister in der „Kunst, es nicht gewesen zu sein“.
So ist die Vorstellung vom Gericht Gottes,
vom Erscheinen vor dem Richterstuhl Christi,
zu einem Mittel verkommen,
andere Menschen zu maßregeln und zu unterdrücken.
Also kein Trost mehr, sondern nur Schrecken.
     Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi
bedeutet dagegen,
dass menschliche Maßstäbe und Beurteilungen
nicht immer die Bedeutung haben,
die wir ihnen zumessen.
Das gilt im Blick darauf ,
wie wir uns selbst beurteilen.
Und es gilt ebenso
für unsere Beurteilung anderer Menschen.
Das ist das Befreiende und Tröstliche,
das vom Richterstuhl Christi ausgeht.
Es liegt nicht alles bei uns.
Und wir sind nicht festgelegt auf unsere Rolle.
Wir können Neues ausprobieren
und auch wieder sein lassen.
Irrtum ist möglich, Fehler sind erlaubt.
     Es gibt eine Gerechtigkeit Gottes,
die unser Verständnis von Gerechtigkeit aufhebt
und übersteigt.
Eine Rechtsprechung,
die tiefer sieht und klarer urteilt,
als es jede menschliche Rechtsprechung kann.
Damit wird diese nicht einfach ungültig oder wertlos.
Christinnen und Christen
sind wie alle Menschen irdischen Gesetzen
und Urteilen unterworfen,
soweit diese nicht gegen die Würde jedes Menschen
oder einer Kreatur verstoßen.
Um es klarer zu sagen:
Der Richterstuhl Christi
ersetzt nicht den irdischen Richterstuhl.
Er steht auf einer anderen Ebene
oder besser gesagt in einem anderen Bereich.
Beide Bereiche stehen nicht isoliert je für sich,
aber beide durchdringen sich auch nicht vollständig.
     Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi
bedeutet überdies,
Christus zugleich
als Richter, Retter und Tröster wahr- und anzunehmen.
Vom Jüngsten Gericht zu sprechen heißt,
darauf zu vertrauen,
dass unser Tun und Lassen nicht vergeblich ist,
dass unser Hoffen und Wünschen ein Ziel hat,
dass Trauer und Schmerz ein Ende haben werden
und dass wir aufgehoben werden in einem Dasein,
dass nicht durch unsere irdische Existenz begrenzt ist.
Amen.

Jürgen-Peter Lesch, Pastor in Ruhe

 
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